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Patras - Kulturhauptstadt Europas 2006 - Ein (lediglich) kultureller Erfolg (nach bestem Wissen)

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2017-01-30 2023-01-17 30.01.2017
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Patras

Man stelle sich vor, jemand stellt die Behauptung auf, Patras habe als Kulturhauptstadt Europas eine Erfolgsgeschichte geschrieben - würde der eigentlich jemanden davon überzeugen können? Wohl kaum. Und dies hat in erster Linie mit der zumeist negativen Berichterstattung zu tun, die die diesjährige Austragung der Institution der Kulturhauptstadt durch die griechische Stadt begleitet. Außerdem ist es keineswegs unwahrscheinlich, dass der Einschätzung mit Überraschung begegnet wird; und zwar von denjenigen - und es sind in der Tat nicht wenige -, die noch gar nicht darüber infor-miert worden sind, dass die Hauptstadt der Region Achaia und des Peloponnes in diesem Jahr die Rolle der europäischen Kulturhauptstadt bekleidet. Doch selbst die Bewohner von Patras, die 2006 als ein besonderes Jahr in der Stadtgeschichte erleben, würden wohl für einen solchen Aphorismus allenfalls ein Lächeln übrig haben. Nichtsdestotrotz kann die Veranstaltung als durchaus gelungen betrachtet werden. Einzig und allein in kultureller Hinsicht! Und ich begründe warum:

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Agios Andreas Kirche

Die Tatsache, dass gegenüber der Vergangenheit in diesem Jahr (anlässlich des Programms der Kulturhauptstadt) immerhin dreimal so viele Menschen aktiv an kulturellen Veranstaltungen teilnehmen - auch wenn sich die Mitwirkung der meisten auf die Rolle des Zuschauers beschränkt -, kann nicht anders als Erfolg bezeichnet werden.
Die Tatsache, dass ein großer Teil des örtlichen Potentials für die verschiedenen bereits stattgefundenen oder noch folgenden thematischen Einheiten aktiviert werden konnte, kann nicht anders als ein Erfolg bezeichnet werden.
Die Organisation und Durchführung einer Fülle von Veranstaltungen, die sich in die entsprechenden thematischen Einheiten harmonisch einfügen, kann nicht anders als ein Erfolg bezeichnet werden. Und mögen die „Eröffnungstage“ einen anlässlich des Auftakts des Kulturhauptstadt-Jahres vor allem formellen Charakter aufgewiesen und die Events zum Schwerpunkt „Karneval“ in einer Stadt wie Patras, deren Markenzeichen schon seit Jahrzehnten eben der Karneval ist, nicht gerade Erstaunen hervorgerufen haben. Es folgten allerdings die „Tage der Poesie und Musik“ (mit einer regelrechten Flut an interessanten Darbietungen) sowie die Events der thematischen Einheit „Das antike Drama auf modernen Büh-nen“, während derer einheimische und auswärtige Theaterliebhaber nicht wussten, welche Vorstellung sie zuerst besuchen sollen!

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Patras Burg

Es kann nicht anders als ein Erfolg bezeichnet werden, dass die noch bevorstehenden und jeweils ein spezielles und zugleich großes Publikum ansprechenden thematischen Reihen in das Kulturhauptstadtprogramm integriert werden konnten. Diese sind im Einzelnen: „Auf der Reise mit….“ (mit einer Serie von Musikevents, Theateraufführungen, Tanzveranstal-tungen und Filmvorführungen), „Religion und Kunst“ (wobei der Höhepunkt dieser Reihe sicherlich die Austragung des po-pulären Kulturfestes „Protoklitia“ [von Protoklitos = Erst-berufener, A. d. Ü.] darstellt, mit dem Patras alljährlich das Gedenken an den Schutzpatron der Stadt, den Heiligen Andreas, feiert), „Kinderkunst“ (mit Ereignissen für Kinder jeden Alters über den gesamten Dezember hinweg) und zu guter Letzt die „Abschlusstage“, während derer sich die Stadt von der herausragenden europäischen Einrichtung der Kulturhauptstadt verabschieden wird.
Schließlich können auch die Auftritte einer Vielzahl von international renommierten Künstlern und Künstlerinnen in der Stadt Patras nicht anders als ein Erfolg bezeichnet werden. Sie kamen nicht in die Stadt, um bloß zu dinieren und sich fotografieren zu lassen, sondern um ihre Arbeit zu präsentieren. Viele von ihnen hatten noch nie Patras oder auch Griechenland besucht, andere wiederum sind überaus selten zu sehen. Einige Namen von denen, die bereits ihre Visitenkarte abgegeben haben: Jean Louis Trintingnant, Roberto Benigni, Kiri Te Kanawa, Oskaras Korsunovas, Gary Burton, Circo de Madruagada. Und einige, die noch folgen werden: Eros Ramazzotti, Maxim Schostakowitsch, Ian Anderson, Mstislaw Rostropowitsch, Jose Carreras, Vanessa Redgrave, Sascha Waltz. Und wir beschränken uns auf Namen außerhalb von Griechenland.
In der Schlussfolgerung könnte also jemand mit guten Argumenten behaupten, dass „Patras 2006“ ein kultureller Erfolg ist. Warum aber schlägt der Gesamtveranstaltung ein solch breites Misstrauen sowohl von Griechen als auch übrigen Europäern entgegen, und das in einem solchen Ausmaß, dass sogar die Zukunft der Institution in Frage gestellt wird? Warum verweisen die Kommentare, die aus der Großstadt des griechischen Südens kommen, in der Regel auf Misserfolge oder zumindest Probleme? Wie lautet die Antwort auf dieses sonderbare Phänomen?

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Odeon Patras, Stavros Xarchakos & Manolis Mitsias

Die Antwort verbirgt sich im Adjektiv „kulturell“. So wie Patras - für ein ganzes Jahr - zur kulturellen Hauptstadt ernannt worden ist, so behaupten auch wir, dass bei PATRAS 2006 der Erfolg geradezu vorprogrammiert ist, nur dass dieser Erfolg ebenfalls nur… kulturell ist. Ausschließlich! Leider…
Und wir sagen leider, weil es heute, gut 20 Jahre, nachdem der Titel der Europäischen Kulturhauptstadt 1985 zum ersten Mal an Athen vergeben worden ist, offensichtlich nicht mehr genügt, diese Institution allein auf Grund ihrer kulturellen Perfektion zu beurteilen. Damals - in der ersten Kulturhauptstadt in der Geschichte der Europäischen Union - hatte Melina Mercouri als Kulturministerin die Initiative ergriffen, alle Regierungschefs der Mitgliedstaaten der EG in der griechischen Hauptstadt zu versammeln. Die Politiker ließen sich vor dem Parthenon-Tempel fotografieren, und das nur unwesentlich erweiterte Veranstaltungsprogramm des klassischen Athener Festivals wurde feierlich eröffnet. Die Aufnahmekapazität der im Stadtgebiet von Athen ohnehin vorhandenen Freilichtstätten war mehr als ausreichend, um die Veranstaltungen zu beherbergen. Athen ging als Geburtsstadt einer neuen Institution in die Geschichte ein und als solcher wird der griechischen Hauptstadt bis heute gedacht.

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Apollon Theater Patras

Für das Athen des Jahres 1985 war es nicht schwer, den Titel einer erfolgreichen Kulturhauptstadt zu erwerben. Schließlich gab es keinen Vergleich, so dass das „Etwas“ dem (vorausgegangenen) „Nichts“ vorzuziehen war. Ein Foto, das seine Runde durch die europäischen Titelblätter machte, war Marketing, Werbung und Präsentation zugleich. Neue Infrastrukturbauten über die bestehenden hinaus waren schließlich nicht erforderlich. Der Plural ist sogar übertrieben, konzentrierte sich das Geschehen doch vor allem auf das Herodion, das große Freilichttheater am Fuße der Akropolis.
Heute, mit einer auf 25 Mitglieder erweiterten EU und angesichts der herausragenden Rolle, die unsere globalisierte Realität und Kommunikation spielen, sind die Anforderungen an ein Großereignis wie die „Kulturhauptstadt Europas“ beträchtlich gestiegen. Die Public Relations, der politische Umgang mit dem Event und die kulturellen Infrastruktureinrichtungen stellen Faktoren dar, die mindestens genauso wichtig - oder, seien wir ehrlich, sogar noch wichtiger - für den Erfolg eines derartigen Prestigeprojekts sind wie das künstlerische Programm. Und daran ist Patras gescheitert. Kläglich.
In politischer Hinsicht litt Patras unter der traditionellen Parteienlogik, die in Griechenland selbst auf kommunaler Ebene noch ihr Unwesen treibt. Die Stadt fiel einer Reihe von ungünstigen politischen Konstellationen zum Opfer: Als man ihr den Titel der Kulturhauptstadt für das Jahr 2006 verlieh, wurde Griechenland von der einen der beiden großen Parteien (PASOK) regiert, während der Bürgermeister von Patras von der anderen (Nea Dimokratia) gestützt wurde. Als dann die Zeit für „PATRAS 2006“ anbrach, hatten sich diese beiden Ausgangsbedingungen umgekehrt. Eine nicht unwesentliche Rolle spielte aber auch der Umstand, dass in Anbetracht der prestigeträchtigen Olympischen Spiele von 2004 der Ministerpräsident des Landes (Konstantinos Karamanlis) höchstselbst das Amt des Kulturministers formell übernommen hatte. Das hatte zur Folge, dass die faktische politische Macht des Ministeriums in den Händen des Staatssekretärs (Petros Tatoulis) lag, der allerdings eher den Interessen seiner Heimatstadt Tripolis diente, die mit Patras um die zentrale Rolle einer neu einzurichtenden Verwaltungsregion im Süden Griechenlands konkurriert. Kleingeistige Parteienpolitik!

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Kleines Theater Patras

Der - aufgrund dieser und anderer negativer Umstände - politische Misserfolg nahm in gewisser Weise auch das kommunikative Scheitern vorweg. Manche wollten die internationale Präsentation von Patras erst gar nicht, andere waren schlicht und ergreifend nicht in der Lage, dies medienwirksam hinzubekommen. Schließlich versuchten sich einige doch daran, das Ergebnis ließ jedoch in jeglicher Hinsicht zu wünschen übrig. Umstrittene Personalien innerhalb des federführenden Unternehmens, das mit der Organisation der Veranstaltung betraut worden ist, und erhebliche Mängel im Umgang mit Chancen und Fördergeldern führten zu einer schier endlosen Fehlerkette und einem vernichtenden Ergebnis. Was an die Öffentlichkeit drang, waren nicht so sehr Informationen zum Programm und den einzelnen Veranstaltungen, sondern in allererster Linie die Probleme, die Verzögerungen, das schlechte Management und die Misswirtschaft. Und wenn es noch Menschen gab, vor allem außerhalb von Patras, die noch nicht einmal darüber in Kenntnis gesetzt worden waren, dass die Metropole auf dem Peloponnes - nach Athen 1985 und Thessaloniki 1997 - als dritte griechische Stadt die Rolle der europäischen Kulturhauptstadt spielen sollte, dann erfuhren sie es auf die denkbar schlechteste Art und Weise vom künstlerischen Leiter selbst. Der (ebenfalls als Politiker in Erscheinung getretene) Thanos Mikroutsikos trat in buchstäblich allerletzter Minute, am ersten offiziellen Arbeitstag des Jahres 2006 von seinem Amt zurück, ließ das Organisationskomitee führungslos zurück und blamierte sich mit diesem Schritt bis auf die Knochen.

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Patras

Ob mit oder ohne Mikroutsikos - Patras hätte es ohnehin nicht geschafft, innerhalb des laufenden Jahres die erforderlichen Infrastruktureinrichtungen bereitzustellen. Als die Frage auf die Tagesordnung gesetzt wurde, war es deutlich zu spät. Und so ließ man auch die letzte Chance auf einen Erfolg im Sektor der Infrastruktur verstreichen. Die Theaterstätten und Ausstellungsräume, die für die vorgesehenen Events erforderlich gewesen wären, wurden niemals gebaut. Man begnügte sich mit provisorischen und improvisierten Lösungen, um die Veranstaltung der Kulturhauptstadt irgendwie über die Bühne zu bringen. Nur dass diese Infrastruktureinrichtungen auch unabhängig von der Austragung der Kulturhauptstadt 2006 in Patras bestanden hatten. Und so hat die Stadt wohl auf sehr lange Zeit hin eine einzigartige Möglichkeit verpasst, sein eher bescheidenes Angebot an kultureller Infrastruktur entscheidend auszubauen und aufzubessern.
Wir müssen also das Fazit ziehen, dass Patras in kultureller Hinsicht alles andere als enttäuscht hat. Dieser rein kulturelle Erfolg muss allerdings als Pyrrhussieg bezeichnet werden. Vor dem kläglichen Scheitern in den Bereichen Kommunikation, Politik und Infrastruktur verblasst die gute Leistung im künstlerisch-kulturellen Sektor. Was bleibt, sind einige Tausend Einheimische - denn die stellen in erster Linie das Publikum der Veranstaltungen, auswärtige Gäste kommen kaum -, die den auftretenden Prominenten aus Kunst und Kultur und deren bedeutender Arbeit ihre Bewunderung zollen und sie begaffen können. Sie solcherart begaffen, als wären sie Waggons eines luxuriösen Zuges, den es durch einen göttlichen Zufall in ihre Gegend verschlagen hat, von dem sie aber sehr genau wissen, dass er nie wieder zurückkehren wird…

Patras, Juni 2006

Aus dem Griechischen: Theo Votsos